Musiktheorie der Renaissance: Theorie und Praxis

Musiktheorie der Renaissance: Theorie und Praxis
Musiktheorie der Renaissance: Theorie und Praxis
 
Die Musiktheorie der Renaissance gehört als ein wesentlicher Bestandteil zum Ganzen dessen, was die Zeit mit dem Begriff und der Sache Musik verbindet. Ihre Aufgabe ist keinesfalls nur, im Nachhinein aus Kompositionen Regeln und Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, sondern vor allem auch, über Wert, Sinn und Ziel, Herkunft und Bedeutung der Musik in allen ihren Erscheinungen nachzudenken. Niederschlag solchen Nachdenkens ist eine Fülle von musikalischen Abhandlungen vom frühen 15. bis zum späten 16. Jahrhundert mit sehr unterschiedlichen Inhalten und theoretischen Positionen. Sie verändern sich, teils durch neue gedankliche Ansätze, teils durch Veränderungen der Musik selbst, und nehmen auf diese Weise, bestimmend oder reagierend, teil an den geschichtlichen Wandlungsprozessen der Epoche.
 
Grundsätzlich ist das nicht anders als in den Jahrhunderten zuvor. Tendenziell jedoch löst sich die Musiktheorie der Renaissance zunehmend von den Bindungen und Voraussetzungen, die für das mittelalterliche Musikdenken noch selbstverständlich waren. Dessen philosophische und theologische Grundlagen werden allerdings in verkürzter Form meist noch tradiert. Und die musiktheoretischen Lehrbücher vermitteln in ihren Eingangskapiteln in der Regel weiterhin die phythagoreisch-platonischen, alttestamentarischen und christlichen Deutungen der Musik. Ihr göttlicher Ursprung, ihre zahlhafte Gesetzlichkeit sowie ihre weltenordnende und menschenbestimmende Kraft tritt für die Autoren aber deutlich in den Hintergrund. Das vorwiegende Interesse gilt vielmehr der musikalischen Praxis und richtet sich auf Fragen der Notierung und Klassifzierung von Musik, der Intervall- und Tonartenlehre, der rhyhtmisch-metrischen Verhältnisse und der melodisch-klanglichen Bestimmungen im Rahmen des Kontrapunkts. Bei den italienischen Musikschriftstellern des 16. Jahrhunderts findet sich ferner, soweit man darüber etwas ergründen konnte, eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Musik der Antike, ihren Tonarten und Tonsystemen, Gattungen und Instrumenten. Dabei verharrte man nicht mehr, wie im Mittelalter, bei der Berufung auf Autoritäten, sondern strebte im Geist der Renaissance danach, durch die Erforschung der Vergangenheit die eigene gegenwärtige Praxis zu befruchten.
 
Innerhalb der überkommenen Systematik der Septem artes liberales, der Sieben freien Künste, blieb die Einordnung der Ars musica in das Quadrivium und damit in die Nachbarschaft der mathematischen Fächer Arithmetik, Geometrie und Astronomie zwar erhalten, doch wird ihre sprachliche Relevanz und damit ihre Verwandtschaft zu den Fächern des Triviums - Grammatik, Rhetorik und Dialektik - deutlicher betont. Darin spiegeln sich die größere Lebensnähe, die der Musik zugesprochen wird, und so etwas wie ein kunstorientierter Bildungsanspruch ganz neuer Art. Musikalische Praxis, vom verständigen Zuhören bis zum eigenen Ausführen, gilt zum Beispiel bei Baldassare Castiglione, dem adligen Schriftsteller und Diplomaten, der mit seinem 1528 erschienen Werk »Il libro del cortegiano« (»Der Hofmann«) wesentlich das Menschenideal der Renaissance prägte, als unverzichtbares Moment menschlicher Kultur und gesellschaftlichen Umgangs. Damit wird eine Forderung erhoben, die die ethischen und pädagogischen Wirkungen der Musik im Sinne der Antike anerkennt, sie aber zugleich im Blick auf die höfisch weltmännischen Tugenden der Zeit erweitert und uminterpretiert.
 
Der erste bedeutende Musiktheoretiker des 15. Jahrhunderts war Johannes Tinctoris. Seine Kontrapunktlehre enthält alle wesentlichen Bestimmungen der zeitgenössischen Musik. Die antiken und mittelalterlichen Vorstellungen von der Sphärenharmonie kritisierte er als unbeweisbar und wandte sich betont den real erklingenden Phänomenen zu. Programmatisch bezeichnete er die Kompositionen seiner Zeit als eine ganz neuartige Kunst. Darin spiegelt sich das verbreitete renaissancehafte Bewusstsein eines durchgreifenden Wandels in der Musik seit etwa 1425 als Anbruch einer neuen, der klassischen Antike ebenbürtigen Epoche.
 
Mit Tinctoris befreundet und von ihm angeregt war der spätere Mailänder Domkapellmeister Franchino Gaffori, eine vielseitige Humanistenpersönlichkeit von starker Ausstrahlung. In seinen Schriften (zum Beispiel »Theorica musicae«, 1492; »Practica musicae«, 1496) behandelte er vor allem die praktische Anwendung der Kompositionsregeln, die er didaktisch klug vereinfachte. Auch vermittelte er bereits ein kontrapunktisches Verständnis, das die klangliche Seite, das dem Ohr Angenehme, mit bedenkt.
 
Hauptsächlich in Basel und Freiburg im Breisgau wirkte der Schweizer Humanist Henricus Glareanus. Richtungweisend in der Geschichte der Musiktheorie war sein 1547 gedrucktes Buch »Dodekachordon«, in dem er, wie der Titel andeutet, die Zahl der Kirchentonarten von acht auf zwölf erweiterte, und zwar um diejenigen, die - von den Grundtönen c und a ausgehend - der modernen Dur- und Mollskala entsprechen. Hochrangige künstlerische Leistungen werden bei Glareanus besonders gewürdigt. Er nennt auch herausragende Komponisten mit Namen, zum Beispiel Josquin Desprez, Jacob Obrecht und Pierre de La Rue. Er vergleicht sie mit den antiken Dichtern Vergil, Ovid und Horaz, analysiert Beispiele aus ihren Werken und demonstriert daran das Musterhafte ihres Komponierens.
 
Der führende Musiktheoretiker der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war Gioseffo Zarlino, Schüler Adrian Willaerts, des Begründers der venezianischen Schule, und seit 1565 Kapellmeister an San Marco in Venedig. Sein Hauptwerk, »Le istitutioni harmoniche« (1558), stellt die Musiklehre der Zeit umfassend dar und entwickelt eine systematische, klanglich fundierte Tonarten-, Kontrapunkt- und Fugenlehre. Die »Erhabenheit« antiker und die »Niedrigkeit« mittelalterlicher Musik werden bei ihm schroff nebeneinander gestellt, um von da ausgehend die Vollkommenheit der modernen Kompositionen (seit Willaert) zu demonstrieren. Wesentlich ist ihm, unter Berufung auf Plutarch, die Einheit von Musik und Wort. Vom Komponisten und vom Hörer fordert er die Vertrautheit mit der Literatur und sieht die Musik, benachbart zu anderen Künsten, als edle, zweckfreie Beschäftigung gebildeter Kenner. Darin folgt er einer verbreiteten, weltläufigen und anspruchsvollen ästhetischen Position der italienischen Spätrenaissance.
 
Musiktheoretische Gedanken, die der damals fortschrittlichsten italienischen Musik entsprechen, vertrat Nicola Vicentino. Wort- und Affektvertonung erhalten bei ihm ein besonderes Gewicht. Auch räumt er die Möglichkeit ein, die musikalischen Mittel ständig zu verändern und zu erweitern, womit er im Kern bereits einen musikgeschichtlich orientierten Ansatz des Komponierens vertritt. In seinem Traktat »L'antica musica ridotta alla moderna prattica« (1555) trat er für die zeitgemäße Anwendung des chromatischen und enharmonischen Tongeschlechts der Griechen ein, was insbesondere auf die Madrigalkomponisten anregend gewirkt hat.
 
Schon an der Wende zum Barockzeitalter, wenngleich getragen von zentralen Ideen der Renaissance, stehen die Musiktheoretiker des späten 16. Jahrhunderts, Girolamo Mei und Vincenzo Galilei, der Vater des Physikers Galileo Galilei. Sie beschäftigten sich mit der griechischen Musikpraxis erstmals anhand originaler Texte und Quellen. Durch ihre Schriften, Briefe und praktischen Versuche wurden sie zu entscheidenden Anregern des monodischen Stils, der neuen Musiksprache der Florentiner Camerata zu Beginn des 17. Jahrhunderts.
 
Im Zentrum der musiktheoretischen Abhandlungen der Renaissance steht zumeist die Lehre vom Kontrapunkt. Sie stammt zwar aus dem Mittelalter, erreichte jedoch im 15. und 16. Jahrhundert eine neue Ebene, insofern die herausragenden Kompositionen und die theoretische Erörterung ihrer Verfahren Modellfunktion gewannen. Und die Fähigkeit, diesen modellhaften Anforderungen gerecht zu werden, wurde zum obersten Prüfstein für die Qualität des musikalischen Handwerks, sogar über den Zeitraum der der frankoflämischen Schule hinaus.
 
Inhalt der Kontrapunktlehre sind die Regeln für das Miteinander gleichrangiger, eigengesetzlicher Stimmen auf der Grundlage konsonanter Zusammenklänge. Das sind im zweistimmigen Satz die Intervalle Prime, kleine Terz, große Terz, Quinte, kleine Sexte, große Sexte und Oktave, im mehrstimmigen Satz diejenigen Akkorde, die nur solche Intervalle sowie die Quarte (aber nur zwischen Ober- und Mittelstimmen) enthalten dürfen. Dazu treten als Ergänzung bestimmte, streng regulierte Dissonanzen, der Satztypik nach unterschieden als Vorhalts- und Durchgangsdissonanz. Die Vorhaltsdissonanz steht auf betonter (schwerer) Zählzeit. Sie muss sich stufenweise abwärts in eine Konsonanz auflösen, und der dissonierende Ton muss vorbereitet, das heißt Teil eines vorangehenden konsonanten Klanges sein. Die Durchgangsdissonanz dagegen steht auf unbetonter (leichter) Zählzeit. Sie muss sekundweise in gleicher Richtung (aufsteigend oder absteigend) von einer Konsonanz kommend zu einer anderen Konsonanz fortschreiten.
 
Diese Grundregeln, die nur durch wenige Ausnahmen und Sonderfälle ergänzt werden, sind bestimmend für die frankoflämische Volkalpolyphonie unter rein musikalischen Aspekten. Nicht einbezogen ist bei dieser Art der Beschreibung das Verhältnis zum Text, das erst in der jeweils besonderen, individuellen Anlage und Ausformung einer Komposition wirksam wird. In der Absicht expressiver Wortausdeutung können Melodiebewegungen und Klangfügungen auftreten, die die Regeln des Kontrapunkts weniger streng auslegen oder - zunehmend im späten 16. Jahrhundert - sogar ganz von ihnen abweichen.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Geschichte der Musiktheorie, herausgegeben von Frieder Zaminer und Thomas Ertelt. Band 6: Hören, Messen und Rechnen in der frühen Neuzeit. Beiträge von Carl Dahlhaus u. a. Darmstadt 1987.

Universal-Lexikon. 2012.

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